Franz Kafka – Der Geier

Es war ein Geier, der hackte in meine Füße. Stiefel und Strümpfe hatte er schon aufgerissen, nun hackte er schon in die Füße selbst. Immer schlug er zu, flog dann unruhig mehrmals um mich und setzte dann die Arbeit fort. Es kam ein Herr vorüber, sah ein Weilchen zu und fragte dann, warum ich den Geier dulde.
“Ich bin ja wehrlos”, sagte ich, “er kam und fing zu hacken an, da wollte ich ihn natürlich wegtreiben, versuchte ihn sogar zu würgen, aber ein solches Tier hat große Kräfte, auch wollte er mir schon ins Gesicht springen, da opferte ich lieber die Füße. Nun sind sie schon fast zerrissen.”
“Dass Sie sich so quälen lassen”, sagte der Herr, “ein Schuss und der Geier ist erledigt.”
“Ist das so?” fragte ich, “und wollen Sie das besorgen?”
“Gern”, sagte der Herr, “ich muss nur nach Hause gehn und mein Gewehr holen. Können Sie noch eine halbe Stunde warten?”
“Das weiß ich nicht”, sagte ich und stand eine Weile starr vor Schmerz, dann sagte ich: “Bitte, versuchen Sie es für jeden Fall.”
“Gut”, sagte der Herr, “ich werde mich beeilen.”
Der Geier hatte während des Gespräches ruhig zugehört und die Blicke zwischen mir und dem Herrn wandern lassen. Jetzt sah ich, dass er alles verstanden hatte, er flog auf, weit beugte er sich zurück, um genug Schwung zu bekommen und stieß dann wie ein Speerwerfer den Schnabel durch meinen Mund tief in mich. Zurückfallend fühlte ich befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut unrettbar ertrank.

– Franz Kafka

Anmerkung
Diese Erzählung stammt aus dem Nachlass von Kafka und wurde auf den Spätherbst 1920 datiert. Erstmals veröffentlicht wurde sie 1936. Der Titel wurde von Max Brod gewählt.

Selbstverständlich wusste Kafka nichts von den Regeln irgendwelcher Blogs – vor mehr als 100 Jahren gab es ohnehin keine – und hätte sich wahrscheinlich sowieso nicht für solche Formalitäten interessiert, so dass hier die Anzahl der Worte irrelevant ist.

Foto von Nick Kwan auf Unsplash

Herr K.

Ja, der Franz! Der hat lang für uns gearbeitet, war aber immer gesundheitlich ein bisserl sensitiv, immer wieder in Sanatorien. Hat, soweit mir bekannt, ein paar unglückliche Liebschaften gehabt, auch in Berlin, hab ich gehört. Und nebenher geschrieben. Romane, glaube ich, und Kurzgeschichten. Irgendwas über einen Heizer, der nach Amerika geht. Ist irgendwann krankheitshalber ausgeschieden, soweit ich mich erinnere, und früh verstorben. War nie verheiratet. Eigentlich ein guter Mann, hatte gute Ideen zur Verbesserung der Arbeitssicherheit. Persönlich eher scheu, zurückhaltend. Hat nie viel gesagt. Nichts Auffallendes an ihm. Seltsam, dass jetzt nach so langer Zeit Reporter kommen in Sachen Franz.

– Johannes Beilharz (© 2019)

(100 Wörter)

Das lebendige Feuer

Liebe Milena, es hat mich betrübt, auf Umwegen zu hören, wie Sie im Nachhinein über mich dachten. Über meine Gefühle für Sie war ich mir nicht sonderlich im Klaren, doch hatte ich, der ich eher Sensor bin als Macher, Ihre Gefühle für mich ganz klar zu sehen gemeint. Ihr K.

– Justinian Belisar (© 2017)

(50 Wörter)

Kafkas Galerie

Erst war’s ein kurzer Absatz, als Geschichte deklariert in Kafkas Sämtliche Erzählungen, dann ein steiles altes Kino mit dick gepolsterten Plüsch-Klappsitzen, und meine Sinne waren oben, nahe am Projektor. Dunkelheit und der gerichtete staubmottengefleckte konische Lichtstrahl. Der Saal war leer, nicht einmal ich war da. Und kein Film wurde gespielt.

– Leonard Blumfeld (2007)

(50 Wörter)

Aus dem Englischen von Johannes Beilharz.

Anmerkung des Übersetzers
Diese Ultrakurzgeschichte spielt auf Franz Kafkas Kurzgeschichte Auf der Galerie an – auch sie könnte man eventuell als Ultrakurzgeschichte bezeichnen, da sie nicht einmal eine Seite lang ist. Diese Geschichte ist enthalten in: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Hrsg. Paul Raabe, Fischer Bücherei Band 1078, 1970.

Franz Kafka / Das nächste Dorf

Mein Großvater pflegte zu sagen: „Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, dass ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, dass – von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.“

– Franz Kafka (1883-1924)

63 Wörter … Kafka wusste nichts von den hier geltenden Wortregeln.

Abentheur einer Bhiene

in ihrer ihr eigenen Sprache festhgehalten

Flieg ich also gestern Abend in Rom, von weiß nicht mehr wo khommend & Wärme suchend, durch ein Gitter in ein Bad hinein & mache kreisend Erkhundung, setz mich dann über Kopf auf die Decke & putz mir die Beine vom Flugwind & Staub. Kömmt einer rein, erschrickt ob mir & flieht. Kömmt bald ein anderer, erkennt mich, der ich inzwischen an die Wand gewechslet bin, als Harmlos, nimmt aber trotzdem ein Thuch, um mich hochzuscheuchen. Ich weiche an die Decke aus, er gibt es auf. Heute morgen häng ich ganz ermatthet von der Decke, mein Endhe ist in Sicht, kömmt derselbe & haut mich mit einem gestreiften Handthuch zu Boden, wo ich auf dem Rücken lande, reicht mir dann aber einen Zipfel, den ich ergreufe, hebt mich hoch & schütthelt mich aus dem Gitterfenster hinaus gegen meinen klammernden Widerstand auf den Hünterhof. C’est la vie. Der Thod ist immer nah.

– James J. Cerbantes (2012)

Anmerkung des Authors
Nachdem Kafka aus der Süchtweise von Khäfern und Hünden geschrieben, lockhte es mich, in etwas barockher Weise aus der Sücht einer Bhiene zu schreiben.

(150 Wörter)

Zerstreutes Hinausschauen

Was werden wir in diesen Frühlingstagen tun, die jetzt rasch kommen? Heute früh war der Himmel grau, geht man aber jetzt zum Fenster, so ist man überrascht und lehnt die Wange an die Klinke des Fensters.
Unten sieht man das Licht der freilich schon sinkenden Sonne auf dem Gesicht des kindlichen Mädchens, das so geht und sich umschaut, und zugleich sieht man den Schatten des Mannes darauf, der hinter ihm rascher kommt.
Dann ist der Mann schon vorübergegangen und das Gesicht des Kindes ist ganz hell.

– Franz Kafka

Eine Ultrakurzgeschichte von einem der großen Meister des Genres. Diese Geschichte wurde 1908 erstmals in der von Franz Blei und Carl Sternheim herausgegebenen Zeitschrift Hyperion veröffentlicht.

Kafkas Galerie

Erst war’s ein Absatz in Kafkas Sämtliche Erzählungen, dann wurde es ein steiles altes Kino mit dick gepolsterten Plüschklappsesseln, und meine Sinne waren weit oben, nahe am Projektor. Dunkelheit und Staubsprenkel im in den Saal hineinstoßenden konischen Lichtstrahl. Das Theater war leer; nicht einmal ich war da. Kein Film spielte.

– Leonard Blumfeld (Copyright 2007)

Aus dem Englischen übersetzt vom Autor selbst.

50 Wörter

Ein Mann namens K.

“Selbst nach wiederholter Zahlungserinnerung konnten wir bislang noch keinen Zahlungseingang verzeichnen.”
Knalltüten! Ich hatte nie im Leben etwas bei dieser Firma bestellt. Hatte Ellen etwa? Nein, unmöglich. Also ab in den Papierkorb mit dem Mist.

Eine Woche später rief eine freundliche, bestimmte Frauenstimme an.
“Herr Kiefer?”
“Am Apparat.”
“Ich rufe an im Auftrag der Firma Novotyn Specialty Products. Und zwar habe ich hier einen Inkassoauftrag vorliegen.”
“Hören Sie, da muss ein Missverständnis vorliegen. Ich habe von dieser Firma niemals etwas gekauft oder geliefert bekommen.”
“Es liegt kein Missverständnis vor. In meinen Unterlagen befindet sich eine von Ihnen unterzeichnete Bestellung über fünf Gartenlauben. Mit Ihrer Anschrift und Telefonnummer.”
“Hören Sie –”
“Unser Mitarbeiter Pavel Woinowitsch sucht Sie übermorgen auf. Halten Sie Bargeld bereit.”
Klick.

“Ellen, hast du irgendwann bei einer Firma Novotyn Gartenlauben bestellt?”
“Gleich im Plural? Du spinnst wohl.”
“Dachte ich doch.”

Auf zur Polizei, dem Freund und Helfer.
“Und diese Rechnung haben Sie einfach weggeworfen?”
“Ja. Weil sie unberechtigt war.”
“Und was sollen wir jetzt für Sie tun, bitteschön?”

War ja noch längst nicht alles verloren!
Der Mitarbeiter Woinowitsch tauchte auf – ein Schrank von Mann in dunklem Anzug, mit gefetteter Halbglatze – und war zu meiner Überraschung gewillt, mich zur Polizei zu begleiten.

“Ihren Personalausweis bitte, Herr Kiefer.”
“Hier.”

“Wir haben da anscheinend ein größeres Problem”, sagte der Beamte, als er zurückkam. Woinowitsch schaute mich ausdruckslos, vielleicht eine Spur höhnisch an.
“Problem?”
“Ja, mit Ihrer Identität. Sagt Ihnen der Name Joachim Jäger etwas?”
“Nein. Sollte er?”
“Wollen Sie etwa leugnen, dass Sie Joachim Jäger sind?”
Ich schnappte nach Luft.

“Jäger ist ein aktenkundiger Identitätsdieb. Und jetzt sehen Sie doch bitte diese Fotos da an. Und die Schriftproben. Und dann sagen Sie mir, ob Sie immer noch behaupten wollen, Kiefer zu heißen.”

Ich schaute zu Woinowitsch hinüber, der sich die schwitzende Stirn wischte.

– Justinian Belisar (Copyright 2007)

300 Wörter