Numerologie

“Ist dir auch schon aufgefallen, dass man sich manche Zahlen leicht merken kann, während andere viel widerspenstiger sind?”
“Genau!”
“Ganz klare Favoriten sind natürlich Zahlen mit zwei Nullen am Ende. Bei drei Nullen wird’s schon schwieriger, weil man sich dann merken muss, wie viele es sind.”
“Genau!”
“Es ist zum Beispiel leicht, sich an die Zahl 100, 1000 oder 10000 zu erinnern, nicht aber an eine Million oder Milliarde. Zu viele Nullen.”
“Genau!”
“Liebling, sagst du eigentlicht immer genau? Ich dachte, das wäre in den Neunzigerjahren mal Mode gewesen, dann aber wieder abgeebbt.”
“Genau!” Damit zwinkerte sie mich boshaft an und gab mir einen kurzen, nassen Kuss auf die Lippen.
“Danke!”
“Seltsamerweise finde ich, dass Zahlen, die auf 072 enden, leicht zu merken sind. Geht dir das auch so?”
“Eigentlich nicht. Aber Zahlen, die auf 99 enden, kann ich mir gut merken. Falls sie nicht zu lang sind, natürlich.”
“Definiere zu lang.”
“Sechs Stellen sind optimal, länger wird schwierig. Ich bin aber auch kein Zahlen- und Merkegenie, gebe ich offen zu.”
“Genau!”
Wieder grinste sie mich boshaft an. Sollte ich es mit dieser Frau wirklich ein ganzes Leben lang aushalten können, wie ich es ihr in der Kirche geschworen hatte?

– Justinian Belisar (© 2022)

(200 Wörter)

Gruppenbild mit Dame

Das war so zustandegekommen: Wir waren bei einer dieser Oldtimer-Shows, die unser Klüngel besuchte, in Essen, glaube ich, – wir waren alle Autonarren – Bodo, Uli, Hein, Schrödi, Kleves und ich, Harry – mit einer Vorliebe für alte Käfer. Nur dass diesmal auch Henrietta, Heins neueste Flamme, mit dabei war. Bei einem roten Opel Kapitän, der nur so vor Chromteilen blitzte in der prallen Sonne, als wäre er selbst eine Sonne, holte Hein seine alte Polaroid aus der Tasche und gab sie mir, damit ich ein Foto machen sollte. Es gab Ärger wegen dieses Fotos, da Henrietta fand, sie sähe etwas alt aus in dem, was die Kamera ausgespuckt hatte. Kleves machte eine seiner spöttischen Bemerkungen (“Na, wie fünfzehn siehste wirklich nich aus!”), was Henrietta noch mehr erboste, so dass sie uns der Reihe nach mit einem Blick ansah, der getötet hätte, wenn Blicke töten könnten, und dann mit den Worten “Ihr mit euren blöden Blechkisten seid sowas von – ich weiß nicht was!” wegstürmte. In dem Bild steht Henrietta in der Mitte. Hein drückt ihr von der Seite einen Kuss auf die Wange. Nach dieser Episode sahen sich die beiden ein paar Wochen nicht, trafen einander später aber irgendwo auf einem Fest und machten Frieden. Zogen in Heins Wohnung zusammen, heirateten ein Jahr später und mieteten zur Hochzeit den roten Opel. Das Gruppenbild mit Dame hängt gerahmt in Heins Arbeitszimmer und ist inzwischen fast völlig verblichen. Aber ich könnte schwören, dass Henrietta auch heute noch mit einem schnippischen Blick an diesem Foto vorbeigeht.

– Harry Stanton (© 2022)

(250 Wörter)

Auszeit

“Was ist so schlimm, wenn ich mir von dir das wünsche, was sich in Jahrtausenden menschlichen Überlebens bewährt hat?”
Sie schenkte mir diesen fragenden Blick – mit leicht gehobener rechter Augenbraue –, den ich in den siebzehn Tagen unserer Bekanntschaft lieben gelernt hatte.
“Das ist nichts Schlimmes – an sich,” antwortete sie schließlich zögernd, “außer dass ich, auch wenn ich dich sehr mag – zu meiner eigenen Überraschung –, nicht sagen könnte, dass ich dich kenne – jedenfalls nicht genug, während du anscheinend schon unsere ungeborenen Kinder in meinen Augen siehst.”
“Ich schäme mich dessen nicht, was ich gesagt habe, Séraphine. Und ja, ich sehe sie klar vor mir: ein Mädchen namens Amanda und einen Jungen namens Akash.”
Dies war der Augenblick, in dem sie aufstand und mich im hellen Sonnenschein jenes Sonntagnachmittags an den Ufern der Seine verließ.
Erst Jahre später sah ich sie wieder, als wir uns ausgerechnet in Bangkok zufällig über den Weg liefen.
Die zweijährige Amanda und ich kamen sie besuchen, als sie Akash nach einer fast mühelosen Geburt in den Armen hielt. Sie sagte, “Ich weiß immer noch nicht, wie du dazu kamst, das in Paris alles vorauszusehen – so eine Frechheit! – aber wir könnten ja seinen Namen immer noch ändern, oder?”

– James Steerforth (© 2020)

(200 Wörter)

Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original mit dem Titel Hiatus wurde in Six Sentences veröffentlicht.

Ein ungeklärter Kurzfilm

Die Straßen von Rom (Via Joyce)

Eine Großstadtvorstadt. Vielleicht Italien, vielleicht Rom. Eine schmale, löchrige Straße mit Grünstreifen und Bäumen in der Mitte, auf beiden Seiten achtstöckige Wohnblocks, gebaut ca. 1985, mit Gebrauchsspuren.

Kamera auf Adrian in der aufgeräumten, etwas leer und unbenutzt anmutenden Küche seiner Wohnung im fünften Stock des Wohnblocks links.

Er schaut auf die Armbanduhr, dann die Küchenuhr. Öffnet die Tür zum Balkon, geht hinaus und ans Geländer.

Blick auf die Balkone des gegenüberliegenden Wohnblocks. Zoom auf den Balkon direkt gegenüber. Nach kurzer Zeit geht die Tür zu diesem Balkon auf und eine Frau im Morgenmantel mit duschnassem Haar tritt heraus.

Unser Held beobachtet die Frau.

Die Frau betastet die Erde eines Blumenkastens, holt auf der linken Ecke des Balkons eine Gießkanne und gießt nacheinander alle vier Blumenkästen.

Sie stellt die Gießkanne wieder an ihren Platz, kommt zurück zum Geländer und schaut. Es könnte sein, dass sie auch Adrian anschaut.

Sie zupft sich kurz das Haar zurecht. Sie verlässt den Balkon, schließt die Tür und lässt die Rollos von Tür und Fenster herab.

Fokus auf Adrian, der weiterhin am Geländer seines Balkons steht. Seine Hände sind am Geländer verkrampft. Blick in sein Gesicht – seine Züge arbeiten, er hat Tränen in den Augen.

Ende.

– Nicole Weiß (© 2016)

(200 Wörter)

Die Kurzversion vom Spiel der Throne

Schwertergeklirr. Intrigen. Kinderreichtum. Sex.
Kleine Drachen mit Menschenmutter.
Mehr Sex, diesmal mit einem Zwerg und etlichen Teilnehmerinnen.
Spritzendes Blut. Durchschnittene Kehlen.
Schwertergeklirr. Intrigen. Mord. Liebe überwindet alles. Oder doch nicht? Sex.
Zauberei. Die Drachen werden größer.
Sex. Einer, der durch andere sehen kann.
Eine ganze Familie nach und nach ausgelöscht. Wie bei Shakespeare.
Wieder mal Sex. Schwertergeklirr.
Gefasel um Schicksal. Inzest. Ein Paar freut sich auf die Nachkommenschaft.
Wird bei einer Hochzeit zur Strafe getötet durch Armbrustschützen, die reinste Maschinengewehrarbeit leisten.
Zynische alte Hurenböcke.
Erweiterte Familienpolitik. Jungfrauen geopfert auf dem Alter der Politik.
Sex. Schwertergeklirr. Intrigen. Unglaublicher Mut. Abgrundtiefe Feigheit.
Ein Adler, dessen Flug irgendwas ankündigt.
Sex. Schwertergeklirr.
Die weiße Mauer. Böse rotäugige Geister.
Sex und Verrat.
Violinengeschrammel. Kampflärm.
Nackte Brüste, nackte Hintern, nackte Vordern.
Schwertergeklirr. Pferdegewieher. Kampfhandlungen, manche im Bett.
Böse Leute, gute Leute, komplexe Leute. Manche, die nach Machtantritt böse werden. Manche werden plötzlich gut.
Arm ab.
Schwertergeklirr. Pferdegewieher. Sex.
Genuschel in einer erfundenen Sprache, die wie Rumänisch klingt, mit Untertiteln.
Special Effects.
Schwertergeklirr. Pferdegewieher. Dreier- und Fünfersex.
Mittelalter mit Mehrwert. Und so weiter. So wie es garantiert nie war.
Viel aufregender.
Spritzendes Blut. Schwertergeklirr. Zur Abwechslung wieder Sex.
Und so weiter. Jahrelang.
Schwertergeklirr. Sex. Blutverguss. Unglaublich beliebt.

– Justinian Belisar (© 2016)

(200 Wörter)

Warum bist du nur so unpersönlich?

Jade (Foto von Johannes Beilharz, 2016)

Die ihr überreichten Blumen lösten wenig Freude aus. Von einer grellen Lampe beleuchtet waren sie betrachtet worden nach den heftigen Worten. Die ausgelöst worden waren von Misstrauen, Verschlossenheit, der Unmöglichkeit, aus sich hinaus zu schauen und den Blickwinkel in das Innere einer anderen Person zu verpflanzen. Eine schwache Entschuldigung also.

– Justinian Belisar (© 2016)

(50 Wörter)

Die längste Fahrt

Was hat der Cowboy damit zu tun? Was hat er mit dem College zu tun? Ist er eingeschrieben mit seinen Shit Kickers und seinem Stetson? Nur eins ist gewiss: ich liebe. Aber wen? Auch das weiß ich seit dem Unfall nicht mehr, bei dem ich in meinem Pontiac eingequetscht wurde.

– Justinian Belisar (© 2015)

Anmerkung des Autors
Am Enstehen dieser Ultrakurzgeschichte beteiligt ist eine, so fand ich, ziemlich verwirrende Zusammenfassung des Romans The Longest Ride von Nicholas Sparks (2013). Shit Kickers (Scheißekicker) ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für Cowboystiefel.

(50 Wörter)

Du bist die Sahne in meinem Kaffee

“Das ist Liebe”, malte sie zittrig mit dem HB-Bleistift um ein Uhr morgens am Tisch in der Essecke auf ein Blatt Papier, den Kopf mit den spärlichen grauen Haaren über die Lupe gebeugt, “die Sahne in meinem Kaffee, das Salz in meiner Suppe, das Segel meiner Liebesbarke, der Kapitän und die Mannschaft, der Spritzer Tabasco auf meinen Spaghetti, deine Hand in meiner unter den Linden”, während Olaf im Schlafzimmer am anderen Ende der Wohnung wändeerschütternd an seinem neunzigjährigen Traum sägte. “Du wirst mir immer notwendig sein, ohne dich wäre ich verloren. Das ist Liebe”, und unterstrich es mit drei Wellenlinien.

– Justinian Belisar (© 2012)

100 Wörter

Ein Geschenk

Eine nahezu folkloristische Szene

“Hier, nimm diesen Kamm als Zeichen –”
Außer einem Würfel mit abgedroschenen Aphorismen zur Liebe auf allen Seiten hatte sie mir noch nie etwas geschenkt. Und wer verschenkt heute noch Kämme?
“Als Zeichen wovon? Als Zeichen deiner bestimmten unbestimmten Gefühle für mich?”
“Komm schon, komplizier nicht immer alles. Wie lang willst du noch damit rummachen? Ich habe dir doch von Anfang an gesagt, dass zwischen uns nichts möglich ist. Wieso will das nicht in deinen Schädel rein?”
“Es könnte Gift dran sein.”
“Wie bitte?”
“Der Kamm könnte vergiftet sein, wie im Märchen.”
“Und ich bin die böse Stiefmutter, wie?”

Sie warf den Kamm zu Boden und stampfte mit einem empörten Schwenken ihrer langen schwarzen Mähne davon.

Ich empfand fast etwas wie Stolz. Endlich war es mir gelungen, ihr ein heftiges Gefühl zu entreißen – selbst wenn es ein unnützes war und wahrscheinlich von sehr kurzer Dauer sein würde.

– Niebla (© 2011)

150 Wörter

Erweiterte deutsche Fassung einer ursprünglich englisch geschriebenen Ultrakurzgeschichte mit dem Titel A Gift.

Dreimal Liebe

Hussain spuckte auf das Kopfsteinpflaster – einmal, zweimal, dreimal. Das also war Liebe.

Mit seinem Geschenk war er zu Leilas Elternhaus gegangen, und zuerst wollte ihn Ali gar nicht hereinlassen. Als er sich dann fast gewaltsam an ihm vorbeidrängte und die Treppe hinauf ins Wohnzimmer stürmte, sah er sofort, warum man ihn hier nicht haben wollte: da stand Leila mit verzücktem Gesichtsausdruck neben einem Fremden und hob ihm gar den Mund zum Kuss entgegen.

Und wie hatte er sie und ihre Familie jahrelang unterstützt, war verlobt mit Leila – die ihn immer wieder vertröstet hatte. … Noch nicht, Hussain, ich möchte mir ganz sicher sein, so kurz nach dem Tode meines Vaters ist nicht der richtige Zeitpunkt, dränge mich nicht! Hatte das Gesicht weggedreht.

Und jetzt dieses Bild, das sich ihm eingebrannt hatte mit glühendheißer Scham. Wie kann man nur so ein Idiot sein? Monate-, jahrelang?

Liebe! Nochmals dreimal auf das Pflaster gespuckt!

– Surendra Sparsh (© 2011)

150 Wörter