Numerologie

“Ist dir auch schon aufgefallen, dass man sich manche Zahlen leicht merken kann, während andere viel widerspenstiger sind?”
“Genau!”
“Ganz klare Favoriten sind natürlich Zahlen mit zwei Nullen am Ende. Bei drei Nullen wird’s schon schwieriger, weil man sich dann merken muss, wie viele es sind.”
“Genau!”
“Es ist zum Beispiel leicht, sich an die Zahl 100, 1000 oder 10000 zu erinnern, nicht aber an eine Million oder Milliarde. Zu viele Nullen.”
“Genau!”
“Liebling, sagst du eigentlicht immer genau? Ich dachte, das wäre in den Neunzigerjahren mal Mode gewesen, dann aber wieder abgeebbt.”
“Genau!” Damit zwinkerte sie mich boshaft an und gab mir einen kurzen, nassen Kuss auf die Lippen.
“Danke!”
“Seltsamerweise finde ich, dass Zahlen, die auf 072 enden, leicht zu merken sind. Geht dir das auch so?”
“Eigentlich nicht. Aber Zahlen, die auf 99 enden, kann ich mir gut merken. Falls sie nicht zu lang sind, natürlich.”
“Definiere zu lang.”
“Sechs Stellen sind optimal, länger wird schwierig. Ich bin aber auch kein Zahlen- und Merkegenie, gebe ich offen zu.”
“Genau!”
Wieder grinste sie mich boshaft an. Sollte ich es mit dieser Frau wirklich ein ganzes Leben lang aushalten können, wie ich es ihr in der Kirche geschworen hatte?

– Justinian Belisar (© 2022)

(200 Wörter)

Überholen

“An diese Reise erinnere ich mich nicht besonders gut. Ich hatte damals einen kleinen roten Sportwagen, einen Lancia, und hatte Roberto, einen Typ, den ich ein paar Tage zuvor bei einer Konferenz im Tessin kennengelernt hatte, spontan zu einer Spritztour ohne Ziel nach Italien eingeladen. Oder vielleicht war er es, der die Idee gehabt hatte. Alles ging an den ersten zwei Tagen gut, bis sich dann zunehmend herausstellte, dass wir uns wenig zu sagen hatten und in fast nichts einer Meinung waren. Ich ging gern in einfache Restaurants, in denen die Mama kochte, er wollte immer irgendwas mit mindestens drei Sternen. Ich mochte kleine historische Nester und Strandspaziergänge, er möglichst große Städte und endlose Nächte und Suff in Diskos mit Abschleppen irgendwelcher Chiquititas. Aus diesem Ausflug machte dann jemand, ein Italiener, wenn ich mich recht erinnere, einen Film, der zu seiner Zeit viel Erfolg hatte. Als wir uns viele Jahre später per Zufall wieder über den Weg liefen, sagte mir Roberto, dass er die Geschichte einem Freund aus der Filmbranche erzählt hatte, der gemeint hatte, daraus ließe sich sicher etwas machen. Die Hauptrollen hatten Jean-Louis Trintignant und Vittorio Gassman. Auch diese hübsche belgische Schauspielerin, wie hieß sie noch? – damals war sie ziemlich bekannt –, spielte mit. Der Unfall mit Todesfolge, mit dem Streifen endet, war sicher ein Versuch, ein bisschen Dramatik in die ansonsten banale Geschichte zu bringen. Ereignet hat er sich jedenfalls in Wirklichkeit nicht. Ich bin zwar gern auf der Überholspur, aber Überholen in einer unübersichtlichen Kurve: nein danke.”

– Justinian Belisar (© 2021)

(250 Wörter)

Das Bild zeigt Jean-Louis Trintignant und Vittorio Gassman in einer Szene aus dem Film Il Sorpasso (deutscher Titel Verliebt in scharfe Kurven) von Dino Risi (1962), auf den in der obigen fiktiven Geschichte Bezug genommen wird.

Neues vom Guru

“Das ist Hirn”, sagte der Guru.
“Ich esse kein –“
”Hirn und kein Herz”, setzte mich der Guru fort.
“Und keine Innereien”, vervollständigte ich mich selbst.
“Vegetarier schaffen es nicht weit”, sagte einer unter der Anhängerschaft.
Nun begann der Guru, mit einem Löffel die braune Soße des Hirnbratens auf meine saubere blaue Anzughose zu träufeln.
Ich versuchte sofort, mir seine Hand mit dem Löffel vom Leibe zu halten, doch war er erstaunlich stark. Die nassen braunen Flecken auf meinen Knien nahmen zu.
“Seht, seht – es ist ein Kampf des Willens!” rief eine Anhängerin.
Was wollte mir der Guru damit nun beibringen?

– Justinian Belisar (© 2021)

(100 Wörter)

Foto von Darius Bashar auf Unsplash

Ungenutzt

Das verstaubte Zimmer, das ich meist vergesse und fast niemals besuche, für das mir aber jeden Monat 150 Euro Miete abgebucht wird. Im Traum weiß ich, dass ich davon schon viele Male geträumt habe, dass es einer dieser wiederkehrenden Träume ist. Aber ist er Realität?, frage ich mich beim Aufwachen.

– Justinian Belisar (© 2020)

(50 Wörter)

Foto von Johannes Beilharz.

Kaputt

Kaputt, Foto von Johannes Beilharz (2018)

Natürlich haben wir über den Film gelacht, den sie bei uns im Viertel gedreht haben. Bis uns die Tränen gekommen sind. Kaputt ist eben vor allem kaputt und wird erst durch eine Kamera amüsant. Mittlerweile kommen schon Fototouris, um mit unserer Kaputtheit als Hintergrund ihre Selfies zu schießen. Schöne Welt.

– Justinian Belisar (© 2018)

(50 Wörter)

Das lebendige Feuer

Liebe Milena, es hat mich betrübt, auf Umwegen zu hören, wie Sie im Nachhinein über mich dachten. Über meine Gefühle für Sie war ich mir nicht sonderlich im Klaren, doch hatte ich, der ich eher Sensor bin als Macher, Ihre Gefühle für mich ganz klar zu sehen gemeint. Ihr K.

– Justinian Belisar (© 2017)

(50 Wörter)

Der Schauspieler Fabian Krötz zu seiner abgerissenen Rolle

“Da sehen Sie mich in meiner bekannten abgerissenen Rolle – ich habe vor einem Monat meine Frau verloren, weil sie mit meinem seit drei Jahren verwitweten Schwager davonlief, dann habe ich vor zwei Wochen meine beiden Kinder durch einen Autounfall verloren – sie saßen zu zweit vorne neben dem mir bis dahin unbekannten Fahrer in einem altersschwachen Fiat Ducato, und alle drei wurden an einer grünen Ampel durch einen Querschläger getötet, der durch die rote Ampel fuhr. Die Arbeit habe ich vor längerer Zeit durch den Selbstmord meines Chefs verloren, seither spreche ich mehr oder weniger regelmäßig beim Arbeitsamt vor. Außerdem habe ich vor zweieinhalb Jahren meinen Großvater und vor anderthalb Jahren gleichzeitig meinen Vater und meine Mutter aufgrund von Kohlenmonoxidvergiftung verloren. Nur um zu verdeutlichen, was es mit dieser abgerissenen Rolle auf sich hat. Ich trinke viel, ich esse wenig, ich rauche kettenmäßig. Ich dusche kaum noch, Deo ist out. Sie können sich vorstellen, wie das riecht. Ich wechsle kaum die Kleider, habe auch niemand, der sie wäscht. Die Putzfrau, Afghanin, wurde ausgewiesen. Der Postbote ebenfalls. Eine äußerst klamme Lage, meine Damen und Herren, und definitiv Anlass zur Abgerissenheit dieser Rolle. Da ist das Foto. Irgendwelche Fragen, meine Damen und Herren?”

– Justinian Belisar (© 2016)

(200 Wörter)

Die Kurzversion vom Spiel der Throne

Schwertergeklirr. Intrigen. Kinderreichtum. Sex.
Kleine Drachen mit Menschenmutter.
Mehr Sex, diesmal mit einem Zwerg und etlichen Teilnehmerinnen.
Spritzendes Blut. Durchschnittene Kehlen.
Schwertergeklirr. Intrigen. Mord. Liebe überwindet alles. Oder doch nicht? Sex.
Zauberei. Die Drachen werden größer.
Sex. Einer, der durch andere sehen kann.
Eine ganze Familie nach und nach ausgelöscht. Wie bei Shakespeare.
Wieder mal Sex. Schwertergeklirr.
Gefasel um Schicksal. Inzest. Ein Paar freut sich auf die Nachkommenschaft.
Wird bei einer Hochzeit zur Strafe getötet durch Armbrustschützen, die reinste Maschinengewehrarbeit leisten.
Zynische alte Hurenböcke.
Erweiterte Familienpolitik. Jungfrauen geopfert auf dem Alter der Politik.
Sex. Schwertergeklirr. Intrigen. Unglaublicher Mut. Abgrundtiefe Feigheit.
Ein Adler, dessen Flug irgendwas ankündigt.
Sex. Schwertergeklirr.
Die weiße Mauer. Böse rotäugige Geister.
Sex und Verrat.
Violinengeschrammel. Kampflärm.
Nackte Brüste, nackte Hintern, nackte Vordern.
Schwertergeklirr. Pferdegewieher. Kampfhandlungen, manche im Bett.
Böse Leute, gute Leute, komplexe Leute. Manche, die nach Machtantritt böse werden. Manche werden plötzlich gut.
Arm ab.
Schwertergeklirr. Pferdegewieher. Sex.
Genuschel in einer erfundenen Sprache, die wie Rumänisch klingt, mit Untertiteln.
Special Effects.
Schwertergeklirr. Pferdegewieher. Dreier- und Fünfersex.
Mittelalter mit Mehrwert. Und so weiter. So wie es garantiert nie war.
Viel aufregender.
Spritzendes Blut. Schwertergeklirr. Zur Abwechslung wieder Sex.
Und so weiter. Jahrelang.
Schwertergeklirr. Sex. Blutverguss. Unglaublich beliebt.

– Justinian Belisar (© 2016)

(200 Wörter)

Warum bist du nur so unpersönlich?

Jade (Foto von Johannes Beilharz, 2016)

Die ihr überreichten Blumen lösten wenig Freude aus. Von einer grellen Lampe beleuchtet waren sie betrachtet worden nach den heftigen Worten. Die ausgelöst worden waren von Misstrauen, Verschlossenheit, der Unmöglichkeit, aus sich hinaus zu schauen und den Blickwinkel in das Innere einer anderen Person zu verpflanzen. Eine schwache Entschuldigung also.

– Justinian Belisar (© 2016)

(50 Wörter)

Die längste Fahrt

Was hat der Cowboy damit zu tun? Was hat er mit dem College zu tun? Ist er eingeschrieben mit seinen Shit Kickers und seinem Stetson? Nur eins ist gewiss: ich liebe. Aber wen? Auch das weiß ich seit dem Unfall nicht mehr, bei dem ich in meinem Pontiac eingequetscht wurde.

– Justinian Belisar (© 2015)

Anmerkung des Autors
Am Enstehen dieser Ultrakurzgeschichte beteiligt ist eine, so fand ich, ziemlich verwirrende Zusammenfassung des Romans The Longest Ride von Nicholas Sparks (2013). Shit Kickers (Scheißekicker) ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für Cowboystiefel.

(50 Wörter)